Ein Interview der GALORE mit Michael Steinbrecher.
15. September 2020, Dortmund. Es ist einer der letzten sommerlichen Tage des Jahres. Michael Steinbrecher kommt – mit Alltagsmaske – ins Foyer der TU Dortmund. Noch sind Semesterferien an der Uni, seine eigenen Studierenden hat der Professor im vergangenen Halbjahr überwiegend digital gesehen. Den Weg in einen kleinen Seminarraum im dritten Stock, direkt gegenüber von seinem Büro, nimmt er schnellen Schrittes zu Fuß. Er sei neugierig und freue sich auf die Fragen, sagt er, während er die Tür aufschließt. Steinbrecher ist selbst Fragesteller aus Leidenschaft. Heute aber steht er Rede und Antwort. Es entwickelt sich ein Gespräch über die Kritik am Journalismus, die Risiken digitaler Alltagshelfer und das Shitstorm-Potenzial des Privatlebens von Willy Brandt.
Michael Steinbrecher, wie informieren Sie sich über das aktuelle Weltgeschehen?
Auf unterschiedlichen Wegen. Ich lese traditionelle Printmedien, bin morgens aber auch auf verschiedenen digitalen Plattformen unterwegs, über die ich meine Informationen beziehe. Und natürlich über Fernsehen und Radio. Es gehört aber auch zu meinem Job, zu wissen, was gerade wo und wie diskutiert wird.
Haben Sie noch ein klassisches Zeitungsabo?
Ich habe eine Wochenzeitung abonniert und kaufe mir ansonsten unregelmäßig unterschiedliche Zeitungen – ohne festes Ritual.
Wer Ende der 00er-Jahre „irgendwas mit Medien“ machen wollte, musste zumeist überdurchschnittliche Abiturnoten mitbringen. Das hat sich inzwischen relativiert. Ist der Journalismus unattraktiv für den Nachwuchs geworden?
Wir an der TU Dortmund nehmen keine sinkende Nachfrage wahr. Aber viele Studierende überlegen sich heute ganz genau, was sie für Ziele haben. Sie denken darüber nach, wie ihre Berufsaussichten sind und was sie sich vom Leben erhoffen. Wer sich heute für den Journalismus entscheidet, der ist meist vom Idealismus getrieben.
Was halten Sie von folgender These: Wer vor 15 Jahren in den Journalismus wollte, hatte mehr Karrierepläne im Hinterkopf, als es heute der Fall ist.
Es spricht grundsätzlich nichts dagegen, eine Karriere anzustreben. Aber wer heute in den Journalismus einsteigt, der merkt schnell, dass es vor allem um Substanz geht. Der schnelle Weg zum Ruhm steht hintenan. Aber natürlich spürt man im Laufe seiner Zeit als Hochschullehrer, dass die Generationen sich wandeln.
Wie macht sich das bemerkbar?
Ein großes Thema ist die Transparenz. Früher war es vollkommen normal, redaktionsinterne Prozesse auch intern zu lassen. Für Studierende heute hat Transparenz einen viel höheren Wert – und ist damit auch selbstverständlicher. Die Herangehensweise der heutigen Generation ist, dass der Journalismus seine Kriterien offenlegen sollte. Er muss nachvollziehbar sein. Es stärkt die Glaubwürdigkeit, wenn Recherchen dokumentiert werden. Viele Studierende hätten sogar kein Problem damit, wenn Redaktionskonferenzen gefilmt werden würden. Das wäre für frühere Journalistengenerationen unvorstellbar gewesen. Auch die Offenheit für den Dialog mit Kritikern ist – anders als früher – da. Ich habe den Eindruck, dass die Bereitschaft gewachsen ist, Fehler einzugestehen und offen zu kommunizieren. Es entsteht eine neue Journalismus-Kultur.
Geht der Trend also weg vom berühmten Elfenbeinturm?
Ja. Aber Quellenschutz ist weiterhin nötig. Da hat die Transparenz Grenzen.
Sie sprechen von einer neuen Journalismus-Kultur. Immer wieder hören wir auch, dass die Digitalisierung alles verändert. Was sind für Sie die großen Trends im Journalismus? Wohin geht die Entwicklung?
Das Smartphone ist längst zum Dreh- und Angelpunkt unseres Lebens geworden. Deshalb ist es für den Journalismus zentral, dort stattzufinden. Das bedeutet nicht, dass Fernsehen, Radio und Print keine Rolle mehr spielen, aber jeder Verlag und jede Rundfunkanstalt muss sich überlegen, wie sie sich digital aufstellt. Wenn wir über Digitalisierung sprechen, ist auch klar: Daten und damit auch der Datenjournalismus werden in dieser Gesellschaft immer wichtiger. Außerdem bin ich überzeugt davon, dass automatisierter Journalismus – auch in audio-visuellen Medien – immer bedeutender wird. Für mich ganz zentral ist aber: Der Journalismus wird personalisiert angeboten werden. Jeder erhält sein individuelles Medienpaket. Mit all den Vor- und Nachteilen, die das mit sich bringt.
Es könnte uns ja erst einmal freuen, dass wir solch ein persönliches Paket erhalten und uns nicht durch viele für uns uninteressante Beiträge kämpfen müssen. Worin sehen Sie die Nachteile?
Wenn der Algorithmus merkt, dass ein Nutzer sich nicht für Außenpolitik interessiert, wird dieser Themenbereich nicht mehr angeboten. So weit, so zielgruppengerecht. Gleiches gilt aber auch für bestimmte politische Sichtweisen, die ja ebenfalls ausgeblendet werden können. So geht nicht nur die Themenvielfalt, sondern auch die Meinungsvielfalt verloren. Aus technischer Sicht ist ein solcher Journalismus nach individueller Maßanfertigung problemlos möglich. Die Frage ist, was das für langfristige Auswirkungen auf die Demokratie hat, wenn der Blick über den eigenen Tellerrand vollkommen verloren geht. In den USA lagen die Wähler der Demokraten und Republikaner in ihren Grundüberzeugungen noch nie so weit auseinander wie heute. Das ist kein Zufall. Einzelne Gruppen bestärken sich gegenseitig und setzen sich immer weniger mit der Meinung Andersdenkender konstruktiv auseinander. Das ist eine große Gefahr.
Bleiben wir zunächst bei den Trends im Journalismus. Wird ein Interview wie dieses in Zukunft von Robotern geführt?
Die Redaktionen von morgen werden nicht von Robotern bevölkert. Der Begriff „Roboterjournalismus“ ist deshalb auch irreführend. Aber es existieren bereits heute sehr gut funktionierende Algorithmen, die viel mehr können, als wir in der Öffentlichkeit wahrnehmen. Sie erstellen bereits heute Texte, die in der Wahrnehmung der Nutzer nicht schlechter abschneiden als die von Journalistinnen und Journalisten, wie Studien der LMU München zeigen. Die BBC setzt ebenfalls bereits seit Jahren auf automatisiert erstellte audio-visuelle Beiträge, vor allem im Online-Journalismus. Wer diesen Trend unterschätzt, macht einen großen Fehler.
In welchen journalistischen Bereichen wird Automatisierung sonst noch genutzt? Wo steckt das Potenzial?
Nehmen wir zahlengetriebene Berichterstattung wie Wetter, Börse, Sportergebnisse – all das lässt sich von automatisierten Systemen in einer Schnelligkeit publizieren, die wir ohne sie nie erreichen könnten. Vor allem wird es möglich sein – da sind wir wieder beim personalisierten Journalismus –, jedem sein individuelles Paket zu schnüren. Von Wetternachrichten für die Heimatregion bis zu den Ergebnissen des dörflichen Fußballvereins, der uns interessiert.
Warum wird der Trend zur Automatisierung in der Öffentlichkeit noch nicht so wahrgenommen?
Weil momentan viele den offenen Umgang mit diesem Thema scheuen. Kein Verlag, keine Rundfunkanstalt möchte das böse Bild zeichnen, dass ein solches System den Job von Journalisten übernimmt. Deshalb wird das Thema mit spitzen Fingern angefasst. Das kann aber nicht der Weg sein. Wir brauchen eine offene Diskussion über den Journalismus von morgen. Was werden automatisierte Systeme leisten können? Auf welche Tätigkeiten werden sich Journalistinnen und Journalisten in Zukunft konzentrieren? Von den Anbietern solcher Systeme kommt häufig das Argument, der Journalismus könne sich in Zukunft mehr auf hintergründige Berichterstattung konzentrieren. Vielleicht wird es so sein. Aber nicht jeder ist eine sogenannte „Edel-Feder“ oder ein geborener Investigativ-Journalist. Was passiert mit denen, die bisher im aktuellen Journalismus ihr Geld verdienen? Ich nehme natürlich auch Ängste bei jungen Journalistinnen und Journalisten wahr, wenn das Thema zur Sprache kommt. Aber Ängste bekämpfen wir am besten mit Information und Offenheit. Und genau das fehlt mir derzeit beim Umgang mit diesem Thema.
Ich nehme im Journalismus auch noch einen anderen Trend wahr, den Sie noch nicht genannt haben. Viele Medien setzen verstärkt auf meinungsorientierte Formate. Wie bewerten Sie das?
Meinung gehört zum Journalismus. Reportagen und Kommentare waren schon immer wichtig für den Journalismus und bereichern unsere Gesellschaft. Wenn sich heute On-Reporter auf persönliche Art den Themen nähern, sehe ich darin kein Problem. Wenn ich die Popularität entsprechender Podcast-Formen sehe, finde ich das sogar ausgesprochen gut. Problematisch wird es, wenn Beiträge vermeintlich nachrichtlich sind, aber in Wirklichkeit eine subjektive oder tendenziöse Sichtweise abbilden. Das kann dazu führen, dass Nutzer glauben, ihnen soll eine Haltung zu Themen „untergejubelt“ werden. Das wiederum kann die Glaubwürdigkeit des Journalismus beschädigen. Aber das Problem ist erkannt. Wir arbeiten derzeit mit meinem Lehrstuhl-Team an der TU Dortmund an einer Studie zum Thema Journalismus und Gesellschaft. Die Trennung von Meinung und Information wird von den meisten Journalistinnen und Journalisten als zentraler Bestandteil ihres Selbstverständnisses gesehen. Wir können nur hoffen, dass sich dieses Bewusstsein auch in der journalistischen Praxis durchsetzt.
Sie sprechen Ihre Forschung an. In Ihrem Buch „Wenn Maschinen Meinung machen“ ist zu lesen, dass einer Umfrage zufolge rund ein Viertel der Befragten den Journalismus als zu unausgewogen empfinden. Das war vor drei Jahren. Hat sich dieser Zustand noch weiter verschlechtert?
Unsere aktuelle Studie, in der wir viele Gruppen der Gesellschaft zu ihren Erwartungen an den Journalismus und auch zu ihren Kritikpunkten befragen, zeigt, dass der Vorwurf der Unausgewogenheit nicht der stärkste Kritikpunkt am Journalismus ist. Deutlich stärker ist beispielsweise die Kritik, dass der Journalismus zu sehr auf Skandalisierung und Übertreibung setzt. Diesen Punkt kritisieren sogar mehr als die Hälfte der Journalistinnen und Journalisten. Und immerhin 42 Prozent von ihnen glauben, dass im Journalismus die schnelle Veröffentlichung derzeit wichtiger ist als Richtigkeit und Recherche. In der Politik sind es nach ersten Ergebnissen unserer noch laufenden Befragung sogar fast drei Viertel. Das ist für mich ein besonders alarmierender Wert.
Der Journalismus steht ja ohnehin sehr stark in der Kritik. Wie kann es da sein, dass gerade in diesen Zeiten die Richtigkeit von Informationen nicht mehr so wichtig scheint?
Zunächst einmal möchte ich sagen: Der Qualitätsjournalismus macht in Deutschland auch sehr vieles richtig! Um eine solche journalistische Qualität beneiden uns die meisten Länder. Es gibt für ihn etablierte Anforderungen, die er in den meisten Fällen auch erfüllt: Richtigkeit, Relevanz, Aktualität, eine angemessene Vermittlung der Inhalte und die Beachtung ethischer Standards. Diese Anforderungen können aber in Konkurrenz zueinander stehen. Richtigkeit zum Beispiel erreicht man nur durch Recherche – und die braucht Zeit. Qualitätsmedien nehmen sich diese Zeit in der Regel, aber für Social-Media- und Online-Medien wird die Aktualität immer wichtiger. Meldungen gehen schnellstmöglich online, in Echtzeit wird gemessen, wie die Klickzahlen sind. Da kommt man als Journalist oft nicht mehr dazu, Themen zu recherchieren, eine Zweit- oder Drittquelle wird seltener zurate gezogen. Es herrscht ein immenser Druck, mit einer Meldung schnell auf dem Markt zu sein. Was auch daran liegt, dass der Journalismus selbst unter wirtschaftlichem Druck steht. Schnelligkeit bedeutet Reichweite, Reichweite bedeutet im Zweifelsfall Werbeeinnahmen. Dabei will – und sollte – der Journalismus in erster Linie für Glaubwürdigkeit stehen. Und jeder Fehler ist Futter für diejenigen, die den sogenannten Mainstreammedien nicht mehr trauen.
Und wie kommt man aus dieser Spirale heraus?
Es gibt keinen einfachen Ausweg. Wir alle sind aufgefordert, unser Nutzungsverhalten zu hinterfragen. Manche Medienunternehmen müssen sich fragen, ob kurzfristiger wirtschaftlicher Erfolg, der durch die Schnelligkeit erzielt werden kann, den langfristigen Vertrauensverlust aufwiegen kann.
Sie beschäftigen sich einerseits mit der Zukunft des Journalismus, in einem weiteren Schwerpunkt aber auch mit der Digitalisierung und Big Data. Warum ist das für einen Journalistik-Professor überhaupt ein Thema?
Das ist eine gute Frage. Als ich 2013 begonnen habe, mich mit dem Thema Big Data zu beschäftigen, lag der Zusammenhang noch nicht so auf der Hand. Mittlerweile ist aber klar: Big Data und die Digitalisierung verändern alle Lebensbereiche. Ich spreche in diesem Zusammenhang immer von einer leisen Revolution, weil die Radikalität der Veränderung nicht gleich offensichtlich ist. Wenn wir heute über die Zukunft des Journalismus reden, ist dies ja nur ein kleiner Teilbereich der Auswirkungen der Digitalisierung. Sie betrifft alle Lebensbereiche.
Stimmt der Eindruck, dass die Möglichkeiten, uns zu steuern, enorm zugenommen haben?
Ja, und es empfiehlt sich, übergeordnete Fragen zu stellen. Was zum Beispiel ist das Kernziel von Google? Sie wollen uns 24 Stunden begleiten. Deswegen hat der Konzern schon vor Jahren Sensoren gekauft, mit denen man Geräte im Haus steuern kann. Logisch, denn er kann damit viel über unser Leben zu Hause lernen. Google ist zudem an Autos interessiert, weil wir viel Zeit im Auto verbringen und Google uns auch dabei begleiten will. Oder denken wir an Smartspeaker und Assistenz-Systeme, all diese Dinge begleiten uns im Alltag. Wir werden darauf aufmerksam gemacht, welche Freunde wir mal wieder anrufen könnten, wie viele Schritte wir noch laufen sollten, welche Ernährung sinnvoll wäre und wie es gelingt, den Stau zu umfahren. All das kann sehr hilfreich sein, es führt beispielsweise zu Verbesserungen im Verkehrsfluss, hilft der Medizin, unterstützt uns bei der Pflege unserer Freundschaften und der Vorbereitung auf Prüfungen. Die Frage ist nur: Wie viel Steuerung wollen und sollten wir abgeben?
Wie lautet die Antwort?
Diese Antwort muss zunächst einmal jeder für sich selbst finden. Wir müssen uns bewusst machen, welchen Preis die vielen Annehmlichkeiten unserer Assistenzsysteme haben. Wir sind gläsern, werden durch den Tag gelenkt, verzichten in weiten Teilen auf unsere Privatsphäre. Wollen wir diesen Preis bezahlen oder ist er zu hoch? Um diese Entscheidung zu treffen, müssen wir aber sowohl die Chancen als auch die Risiken der Digitalisierung kennen. Genau das verstehe ich unter einem Digitalbewusstsein. Parallel dazu müssen sich Politik und Rechtsprechung mit vielen ethischen Fragen beschäftigen, die bisher ungelöst sind. Es kann uns außerdem nicht gefallen, dass vor allem in den USA riesige Konzerne entstanden sind, die als Monopolisten eine unglaubliche Machtfülle entwickeln und diese ständig ausweiten. Wer kann diese Machtfülle kontrollieren? Wie bringt man diese Konzerne dazu, offenzulegen, wie sie die Daten nutzen, die sie weltweit sammeln? Die Antworten auf diese Fragen müssen wir schnell finden. Wir haben Jahrhunderte gebraucht, um ein Umweltbewusstsein zu entwickeln. Mit dem Digitalbewusstsein müssen wir schneller sein, sonst werden ohne unser Zutun Fakten geschaffen, die unser Leben drastisch verändern.
Gleichzeitig sieht man weiterhin Menschen, die wie selbstverständlich ihre Smartwatch fragen, wo gerade ihr Handy ist. Scheinbar ohne Problembewusstsein…
Das ist ein wichtiger Punkt. Wenn ich mit Studierenden darüber spreche, welche Daten sie preisgeben, höre ich oft die Frage: „Was interessiert denn die NSA, welche Pizza ich mir gerade kaufe?“ Das mag auf den ersten Blick stimmen. Aber angenommen, man bewirbt sich bei einer Firma, die Daten professionell erwirbt und nutzt. Im Verlaufe der Recherche über den Bewerber stellt sich heraus, dass diese Person nicht nur viele Pizzen bestellt, sondern häufig mehrere Monate lang Nutzungspausen im Fitnessstudio einlegt und wiederholt in das gleiche Hotel auf Mallorca fährt – dann sieht die Sache anders aus. Dann kann auch ein ansonsten geeigneter Bewerber, der fachlich top ist, durch das Raster fallen, weil sein Lebensstil insgesamt nicht optimal zu sein scheint. Die Summe seiner Nutzungsdaten hat also ein problematisches Bild von ihm gezeichnet – ab diesem Punkt verstehen viele die Gefahren.
Wir werden bewertet und eingestuft.
Exakt, und das passiert heute schon. Es gibt Untersuchungen, die belegen, dass ein Algorithmus anhand von nicht einmal 100 Gefällt-mir-Angaben auf Facebook etwa die gleiche Kenntnis über eine Person hat wie der eigene Lebenspartner. Das ist vielen Menschen nicht bewusst. Dieses Digitalbewusstsein zu fördern, ist eine große Aufgabe unserer Zeit. Und auch da hat der Journalismus eine Verantwortung.
Sie sagen, die Digitalisierung betrifft alle Lebensbereiche. Im Sport und auch im Sportjournalismus – Ihnen ja nicht ganz unbekannt – wird auch verstärkt mit Daten gearbeitet. Sie vertreten die Position, der Sport sei ein Mikrokosmos für die Gesellschaft. Was bedeutet das in diesem Fall?
Nehmen wir das Beispiel der „Heatmaps“ beim Fußball: Nach einem Länderspiel bekommen die Zuschauer haargenau gezeigt, in welchen Bereichen des Feldes ein Spieler sich zu welchem Zeitpunkt und wie lange bewegt hat. Warum sollten Unternehmen nicht auf die Idee kommen, das Gleiche mit Angestellten in Kaufhäusern zu machen? Statt eines angekommenen Passes zum Mitspieler würden dort erfolgreiche Kundenkontakte gemessen werden. Das ist keine Science-Fiction.
Aber ein Problem für den Datenschutz.
Ja, und da sind wir wieder beim Punkt der gesellschaftlichen Verhandlung. Wollen wir so etwas? Oder greift so etwas zu sehr in unsere Privatsphäre ein?
Warum hat die Digitalisierung bei allen Risiken, die Sie beschreiben, ein vergleichsweises gutes Image?
Weil die großen Tech-Giganten die größten Werbeetats haben: Amazon, Google, Apple, Facebook, Microsoft – das sind die größten Konzerne der Welt. Die Besitzer sind heute die reichsten Menschen des Planeten. Denn die Währung der Zukunft sind nun einmal unsere Daten. Und noch einmal: Das, was die Digitalisierung zu bieten hat, ist in vielen Bereichen ja auch verheißungsvoll. Sie kann unser Leben einfacher machen und vieles zum Guten verändern. Davon bin auch ich überzeugt. Ich plädiere nur dafür, gleichermaßen auch die Schattenseiten in den Blick zu nehmen. Es ist die Aufgabe unserer Gesellschaft, beide Seiten gegenüberzustellen, um auszuhandeln, was wir wollen – und was nicht.
Wenn wir auf das große Ganze schauen: Haben sich eigentlich die Demokratie-Versprechen bewahrheitet, die das Netz uns suggeriert hat, als das Internet wirklich noch Neuland war? Oder erleben wir sogar demokratiegefährdende Gegentrends?
Ja, diese Trends erleben wir. Die sozialen Medien sind derzeit auch ein Nährboden für Hassbotschaften und eine sich aufbauende Polarisierung der Gesellschaft, über die wir schon gesprochen haben. Trotzdem müssen wir vorsichtig sein. Ich verstehe auch jeden Menschen, der in seiner Meinungsfreiheit im Netz nicht beschnitten werden will. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die sich im Zweifelsfall gar nicht mehr trauen, sich digital zu äußern, weil sie Angst vor einem Shitstorm oder Mobbing haben. Wir haben als Gesellschaft noch keinen guten Mittelweg gefunden.
Wie kann das gelingen?
Wir werden – wie in anderen Lebensbereichen auch – Umgangsformen definieren müssen. In einem Raum, in dem sich Menschen real treffen, ist schnell klar, was geht und was nicht geht. Davon sind wir im Netz noch ein Stück weit entfernt. Aber immerhin haben wir das Problem schon einmal erkannt.
Wenn wir bei Umgangsformen und Shitstorms im Netz sind: Welche Auswirkungen haben sie aktuell auf die Politik und den Journalismus?
Bestimmte Thesen oder Meinungen werden vorsichtiger formuliert, als sie es eigentlich sollten. Nehmen Sie die Politik: Die legendären Debatten von Franz Josef Strauß, Helmut Schmidt, Willy Brandt und Herbert Wehner hätten in der heutigen Zeit große Shitstorms zur Folge. Jeder hat Angst vor Fehltritten, auch im Privaten. Das Privatleben von Willy Brandt mit den vielen Gerüchten über außereheliche Beziehungen würde heute mit Sicherheit eine wilde Berichterstattung nach sich ziehen. Damals gab es noch ein Agreement, dass man darüber nicht berichtet. Das funktioniert heute nicht mehr. Politiker, Sportler, aber auch Privatmenschen müssen ständig damit rechnen, dass Fehltritte sofort öffentlich werden. Das gab es früher zwar teilweise auch – aber sicher nicht in diesen Dimensionen. Die ständige Beobachtung und die unmittelbaren und heftigen Reaktionen im Netz führen dazu, dass sich im Journalismus und in der Politik immer weniger Menschen trauen, ihre Meinungen zuzuspitzen. Aus Angst, angreifbar zu sein. Das schleift Unterschiede ab und gibt denen Argumente, die von Mainstream-Medien sprechen. Ein lebendiger und zugespitzter Austausch von Argumenten gehört aber zu einer lebendigen Demokratie.
Gleichzeitig nutzen andere diese Medien-Mechanismen bewusst, um in der Öffentlichkeit stattzufinden.
So ist es. Wer weiß, wie diese Medienlogik funktioniert, verschafft sich in der Öffentlichkeit schnell Gehör. Wie wir alle wissen, gibt es politische Parteien, die bewusst auf Provokationen setzen. Das erleben wir nicht nur in Deutschland. Sie erzielen damit erst Aufmerksamkeit, kalkulieren öffentliche Empörung mit ein, relativieren dann – ehe wenig später die nächste Provokation folgt. So ungern Medienmacher es hören: Damit werden Medien politisch instrumentalisiert. Aber was ist die Alternative? Mein Kollege Robert G. Picard vom Reuters-Institut in Oxford kommt zu dem Schluss, dass der Journalismus die Berichterstattung nicht nur auf Personen, erst recht nicht auf einzelne Zitate konzentrieren sollte. Diese sogenannten „Soundbites“ bestimmen zu sehr die Diskussion, ein lösungsorientierter Diskurs findet zu selten statt. Der Journalismus sollte eher die Themen und die Hintergründe in den Vordergrund stellen. Aber noch einmal: Das alles darf nicht dazu führen, dass politische Unterschiede nivelliert werden. Wir brauchen beides: Einen selbstkritischen Blick auf die eigenen Berichterstattungsmechanismen und gleichzeitig sollten Politik und Journalismus das Zuspitzen nicht nur politischen Extremisten überlassen.
Zurück zum Ruf des Journalismus: Wie sehr trifft es Sie persönlich, dass der Journalismus derzeit häufig mit negativen Begriffen wie Lücken- und Lügenpresse oder Fake-News in Verbindung gebracht wird?
Mich stört vor allem, dass es bei der Kritik häufig nur um diese Schlagworte geht. Das darf nicht so bleiben. Denn wenn uns etwas an dieser Gesellschaft liegt, brauchen wir einen konstruktiven Austausch über die Erwartungen an den Journalismus. Die Frage, wie in einer Demokratie Inhalte verhandelt werden und welche Rolle der Journalismus dabei spielt, ist existenziell. Deshalb werde ich in den nächsten Jahren meine Energie in die Forschung zu diesem Thema stecken. Was erwarten unterschiedliche Gruppen in unserer Gesellschaft vom Journalismus? Was kritisieren sie? Wie kann der Journalismus der Zukunft aussehen? Wir wollen durch Forschung eine Grundlage für eine sachliche Diskussion dieser Themen schaffen. Es wird Zeit für diesen Dialog. Es steht viel auf dem Spiel.
Wir sind ja eingestiegen mit Ihrer persönlichen Mediennutzung. Wie kommt es eigentlich, dass jemand wie Sie, der das aktuelle Geschehen so genau verfolgt, keinen offiziellen Twitter-Account betreibt?
Jeder sollte sich fragen, welches Medium zu einem passt. Wenn ich über Themen nachdenke, brauche ich Zeit und möchte mich in einer längeren Form ausdrücken können. Beides passt nicht zu Twitter, wo es um Schnelligkeit und Kürze geht. Dass ich Bücher schreibe und lange Talkformate moderiere, ist kein Zufall. Mir liegt die längere Form einfach besser.
Fernseh-Talkshow auf der einen Seite, Lehrstuhl auf der anderen Seite: Sind Sie selbst lieber Fragesteller oder derjenige, der antwortet?
Meine Leidenschaft ist das Fragestellen, sonst hätte ich den Beruf nicht gewählt. Journalistinnen und Journalisten sind in der Regel von Neugier getrieben. Ich stelle gerne Fragen, weil mich die Antworten interessieren. Auch in der Wissenschaft beginnt es mit Forschungsfragen, auf die wir Antworten finden wollen. Aber damit ist es in der Regel nicht vorbei. Denn auch jede Antwort, die zu neuen Fragen führt, ist ein Gewinn. Nur so entwickeln wir uns persönlich und als Gesellschaft weiter.
GALORE
GALORE ist ein deutsches Interview-Magazin. In sechs Ausgaben pro Jahr stellt es Personen aus Kunst, Kultur, Gesellschaft und Politik vor. Das Interview mit Michael Steinbrecher ist in Ausgabe 42 erschienen.